Gestalten des Mitgefühls (2006/1)

Herausgegeben von: Rüdiger Zill

Vergleicht man die deutschen Begriffe „Mitgefühl“ und „Mitleid“ mit den entsprechenden Ausdrücken in anderen Sprachen, z.B. mit dem englischen compassion oder pity, so zeigt sich, daß sie je andere Assoziationen anklingen lassen. Im deutschen Mitgefühl ist das generelle Fühlen mit enthalten, im englischen compassion das verwandte passion, das ja zu gut Deutsch nichts anderes als „Leidenschaft“ meint. Fühlen sich die Engländer also mit größerer Intensität in das  Leid der anderen ein? Versucht man eine wörtliche Rückübersetzung, erhält man ein Wort von eher zerstörerischem Klang, kommt es doch fast nur in der Verbindung »in Mitleidenschaft ziehen« vor, etwas das zudem eher Sachen als Personen  zustößt. Wenn es auch sonst Mit-Leidenschaft nicht gibt, so doch Mit-Leid. Dem entspricht das englische pity, bei dem nun das „mit“ – „com“ nicht mehr enthalten ist. Das zeigt, daß der allgemeinere Terminus Mitgefühl im Deutschen viel  näher an das speziellere Mitleid gerückt ist als das englische compassion an pity. Für das deutsche Mitleid ist nun wiederum immer auch ein spezielles Leid mit bedeutsam, ein Leid, das bei uns Passion heißt (und nicht zu verwechseln ist mit passion) – das Leid Christi (ein Leiden, das übrigens nach christlichem Verständnis aus Mitleid erlitten wird). Diese nahe Verbindung wird im Englischen durch pity verschliffen. In beiden Sprachen muß Mitgefühl und Mitleid aber  zunächst von Empathie – empathy abgegrenzt werden. Während Empathie Einfühlung generell (zunächst ohne Wertung) meint, also auch glückliche Empfindungen nachfühlen kann, zielt Mitleid – und zumeist auch Mitgefühl – auf Empathie mit negativen Erfahrungen. Mitleid hat zudem noch stärker moralische Komponenten. In diesem Zusammenhang werden nun Mitgefühl und Mitleid häufig nach ihrem moralischen Wert unterschieden. Dann versteht man unter Mitgefühl eine positive Regung, die nur das Beste für den Leidenden will, während Mitleid einen deutlich negativen Beigeschmack hat, weil es als herablassend empfunden wird. An diese negativen Erfahrungen knüpft Adolf Muschg in seinem Beitrag an, gerade auch an das verordnete Mitgefühl, das den Kindern oktroyiert wird, und zwar vornehmlich im sonntäglichen Gottesdienst, in den Agenturen der sogenannten Mitleidsreligion, die doch in der Geschichte so oft selbst mitleidslos war. 

Stichworte: Mitgefühl, Empathie, Gefühl, Mitleid, Scham

Erschienen: 2006

Inhalt

  • Mitleid – muß das sein?
  • Empathie – Mitgefühl – Grausamkeit
  • Eine verbogene Meßlatte?
  • Apotheose und Kritik des Mitleids
  • Theatrum mundi
  • Zivilisationsbruch mit Zuschauer
  • Gleichsam wie Zuckerrohrsaft
  • Dimensionen der Macht im Gefühl der Scham
  • Nachsitzen im Kino
  • Kann man Scham auf Dauer stellen?
  • Beschämende Niederlagen
  • Nach dem sexuellen Mißbrauch
  • „Und auf Vernichtung läuft’s hinaus“
  • Agenten der Peinlichkeit
  • Eine Frage der Ehre
  • Stärken und Schwächen der Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung im Land Brandenburg
  • Visionen auf dem Boden der Tatsachen
  • Neue Perspektiven auf die ostdeutsch-deutschen Entwicklungen
  • Kompetenzaufteilung in konzerninternen Netzwerken der Automobilindustrie – Chance für Standort und Region?
  • Die Spaltung der Sozialdemokratie in Insider und Outsider
  • Neues von der philosophischen Front
  • Herbert Hörz, die „Wahrheitsliebe“ und die Wissenschaftlichkeit des Arguments
  • Weltverändernde Philosophie?
  • Alexis de Tocqueville: Lettres choisies
  • Joachim Radkau: Max Weber
  • Neue Stalin-Biographien
  • Henning van den Brink: Kommunale Kriminalprävention

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Coverbild von  Gestalten des Mitgefühls