Postsozialistische Divergenzen (2002/3)
Als vor nunmehr zwölf Jahren der europäische Staatssozialismus im Orkus der Geschichte verschwand, gerieten auch große Teile der territorialen Ordnung im östlichen Teil Europas ins Wanken. Die neuen politischen Klassen im Osten sahen sich damit nicht nur vor die Herausforderung gestellt, gangbare wirtschafts- und gesellschaftspolitische Reformstrategien zu entwerfen, sondern auch vor die Aufgabe, ihre Länder geopolitisch neu zu verorten. Viele Akteure sahen von Anfang an in der alten Vision vom „einheitlichen europäischen Haus“ gleichsam die „natürliche“ Lösung des Problems. Hatte doch die schrittweise Integration der westlichen Hälfte des Kontinents im Rahmen der EU auf eindrucksvolle Weise gezeigt, daß es möglich ist, das Gegeneinander der Nationalstaaten durch supranationales Denken und entsprechende institutionelle Arrangements zum sicherheitspolitischen wie ökonomischen Nutzen aller Beteiligten zu entschärfen. Dies wog schwer angesichts der verheerenden Katastrophen, in die die Nationalismen den Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt hatten, und der Vehemenz, mit der solche Konflikte an seiner östlichen Peripherie schon wieder aufzubrechen begannen. Hinzu kam, daß man mit einer supranationalen Orientierung auch an eigene politische und intellektuelle Traditionen anknüpfen konnte. Erinnert sei hier nur an Wladislaw Sikorski und Edvard Beneš, die 1942 als Regierungschefs im Exil die Bildung einer polnisch-tschechoslowakischen Konföderation vereinbart und noch im selben Jahr den Dialog mehrerer Exil-Regierungen über eine künftige „Europäische Gemeinschaft“ initiiert hatten. Ostmitteleuropäische Politiker gehörten zu den prominenten Vordenkern europäischer Integrationsprozesse, die dann auf die bekannte Weise nach dem Zweiten Weltkrieg nur im Westen ins Werk gesetzt wurden. Insgesamt bot sich nach 1989 trotz einiger Varianz in den oft mythologisch aufgeladenen Europabildern1 sowie aufkommenden Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Transformationsstaaten mit der „Rückkehr nach Europa“ eine zukunftsträchtige Formel an.
Stichworte: Transformation, Ökonomie, Europa, Integration, EU
Erschienen: 2002
Inhalt
- Transformation – Entwicklung – EU-Integration
- Transformation als Peripherisierung
- Ursachen und Konsequenzen der Entwicklung der Staatseinnahmen in den osteuropäischen Transformationsländern
- Die Demokratie in den Augen der Bevölkerung Osteuropas
- „Allgemeine Eigentumsverleihung“
- Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Aufnahmekriterien der EU
- Marxismus und Pragmatismus und die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit
- Reading Rorty – eine verpaßte Chance liberalkonservativer deutscher Intellektueller?
- Eine überschaubare Welt
- „Kritische Theorie“ im Spiegel der Korrespondenz Max Horkheimers
- Stephan Fingerle: Waffen in Arbeiterhand?
- Peter Pawlowsky, Uta Wilkens (Hg.): Zehn Jahre Personalarbeit in den neuen Bundesländern
- Horst Berger, Wilhelm Hinrichs, Eckhard Priller, Annett Schultz: Privathaushalte im Vereinigungsprozeß
- Beate Rössler: Der Wert des Privaten
- Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration
- Jacques Derrida: Politik der Freundschaft