Die Gemeinschaft und ihre Grenzen (2002/1)
Betrachten wir den philosophischen Diskurs der Moderne, dann können wir feststellen, daß dieser seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln um ein einziges Thema kreist: “das Erlahmen der sozialen Bindekräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformation einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorrufen.” (Habermas)
Eines dieser Äquivalente ist die Gemeinschaft, der “wir” uns zugehörig wissen, eine Gemeinschaft, mit der Orientierungen zum Zuge kommen sollen, die als Gegeninstanzen gegenüber einer transzendental obdachlosen Moderne aufgeboten werden können. Mit der Absicht sie zu “verjüngen”, beschwor Hölderlin sie im Hyperion als Antithese zur beginnenden Moderne in Form eines idealen Griechenlands, Novalis verklärte sie im Mythos der sinnerfüllten Zeiten, “wo Europa ein christliches Land” und durch “ein großes gemeinschaftliches Interesse” vereint war, Tönnies setzte sie der starr-mechanischen bürgerlichen Gesellschaft entgegen und in unseren Tagen argumentieren Hermeneutiker und Kommunitaristen für die These, daß eine bloß auf die Garantie individueller – liberaler, sozialer und demokratischer – Grundrechte fixierte Gesellschaft kein Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorbringen kann, weil hierfür eine ebenso verpflichtende wie identitätsstiftende gemeinsame Konzeption des Guten vonnöten sei – also eine Konzeption des “Wir”, die sich positiv auf einen kollektiv verbindlichen und kollektiv verbindenden Wert- und Verständnishorizont einer partikularen Wir-Gemeinschaft bezieht, der allen individuellen Rechten normativ vorgeordnet ist und damit auch deren Grenzen und deren legitimen Anspruch bestimmen könnte – eine Position, die einem differenzblinden Universalismus entgegengesetzt ist und von ihren Vertretern selbst als ethnozentristisch, kontextualistisch, partikularistisch oder sogar offen als relativistisch bezeichnet wird.
Stichworte: Gemeinschaft, Carl Schmitt, Wir, Systemtheorie, Exklusion
Erschienen: 2002
Inhalt
- Formaler politischer Existentialismus:
- Schwierigkeiten mit dem Wir-Sagen
- „Dem Denken eine Grenze ziehen“
- Grenzen der Gemeinschaft?
- Die neuere Systemtheorie und das Konzept der sozialen Exklusion
- Was treibt die Nachwachsenden umher?
- Körperzeichnungen
- Währungsunion und Koordinierung
- Unternehmen und Gemeinden im ländlichen Raum
- Privatisierung und Sowjetgeist
- John McDowell: Geist und Welt